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Die Raumfrage als Schnittstelle von Theologie, Politik und Sozialgeschichte: Kulturwissenschaftliche Raumwende und neutestamentliche Exegese

Published online by Cambridge University Press:  06 September 2021

Christian Blumenthal*
Affiliation:
Neutestamentliches Seminar, Katholisch-theologische Fakultät, Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Regina-Pacis-Weg 1a, D-53113 Bonn, Germany. Email: cblument@uni-bonn.de

Abstract

The following article is part of an essay trilogy dealing with space and spatial concepts in the New Testament. In this trilogy, the spatial thematic approach is profiled as an interface for political, social-historical and theological–christological questions. The article illustrates how this interface function works in the basileia theme in Matthew and Luke.

German abstract:

German abstract:

Der vorliegende Beitrag gehört zu einer Aufsatz-Trilogie, welche sich mit Raum und Raumkonzeptionen in neutestamentlichen Schriften beschäftigt. In dieser Trilogie wird der raumthematische Zugang als Schnittstelle für politische, sozialgeschichtliche und theologisch-christologische Fragestellungen profiliert. Diese Schnittstellenfunktion wird im vorliegenden Beitrag an der matthäischen und lukanischen Basileiathematik erprobt.

Type
Articles
Copyright
Copyright © The Author(s), 2021. Published by Cambridge University Press

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Footnotes

Für kritische Rückmeldungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrags danke ich von Herzen Konrad Huber, Nils Neumann und Wolfgang Stegemann.

References

1 Siehe die überblicksartigen Beiträge zu den einzelnen theologischen Disziplinen in VF 62 (2017).

2 Die Bände wurden von der American Academy of Religion und der Society of Biblical Literature initiiert: Band i: Theory, Geography, and Narrative (hg. J. L. Berquist/C. V. Camp; LHB 481; New York/London, 2007); Band ii: The Biblical City and Other Imagined Spaces (hg. J. L. Berquist/C. V. Camp; LHB 490; New York/London, 2008); Band iii: Biblical Spatiality and the Sacred (hg. J. Økland u.a.; LHB 540; London u.a., 2016); Band iv: Further Developments in Examining Ancient Israel's Social Space (hg. M. K. George; LHB 569; New York/London, 2013); Band v: Place, Space and Identity in the Ancient Mediterranean World (hg. G. T. M. Prinsloo/C. M. Maier; LHB 576; New York u.a., 2013).

3 Siehe in Band iii die Beiträge von K. Wenell, „The Kingdom of God as ‘Space in Motion’: Towards a More Architectural Approach“, 134–50, M. Sleeman, „Lukan Narrative Spatiality in Transition: A Reading of Acts 11:29–12.24 for its Space“, 151–68 und J. C. de Vos, „Hebrews 3:7–4:11 and the Function of Mental Time–Space Landcapes“, 169–83; in Band v findet sich eher als methodentheoretischer Überblick: M. Sleeman, „Critical Spatial Theory 2.0“, 49–66; in den Bänden iii und iv finden sich keine speziell auf neutestamentliche Texte konzentrierten Ausführungen.

4 Sleeman, M., Geography and the Ascension Narrative in Acts (MSSNTS 146; Cambridge: Cambridge University Press, 2009)CrossRefGoogle Scholar; Stewart, E. C., Gathered around Jesus: An Alternative Spatial Practice in the Gospel of Mark (Matrix: The Bible in Mediterranean Context Series 6; Eugene, OR: James Clarke & Company, 2009)CrossRefGoogle Scholar; Nasrallah, L. S., „Spatial Perspectives: Space and Archaeology in Roman Philippi“, Studying Paul's Letters: Contemporary Perspectives and Methods (hg. Marchal, J. A.; Minneapolis: Fortress, 2012) 53–74Google Scholar; Williams, G. J., „Narrative Space, Angelic Revelation, and the End of Mark's Gospel“, JSNT 35 (2013) 263–84Google Scholar; Bosenius, B., Der literarische Raum des Markusevangeliums (WMANT 140; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2014)Google Scholar; und Schreiner, P., The Body of Jesus: A Spatial Analysis of the Kingdom in Matthew (LNTS 555; London: Bloomsbury, 2016)CrossRefGoogle Scholar.

Zudem sei noch auf den Bereich der neutestamentlichen Geographie verwiesen (z.B. Vonder Bruegge, J. M., Mapping Galilee in Josephus, Luke, and John: Critical Geography and the Construction of an Ancient Space (AJEC 93; Leiden/Boston: Brill, 2016)CrossRefGoogle Scholar sowie auf das Berliner Exzellenz-Cluster Topoi.

Darüber hinaus verdienen der umfangreiche Abschnitt zu Raum(vorstellungen) in der Bibel und deren Mitwelt von E. Jooß, Raum: Eine theologische Interpretation (BEvTh 122; Gütersloh: Güterslocher Verlagshaus, 2005) 121–234 und die drei neutestamentlichen Beiträge im Themenheft „Erzählte Räume“, BiKi 73 (2018) Beachtung (zu den Evangelien (N. Neumann), Paulus (J. Rüggemeier) und der Offb (K. Huber)).

5 Siehe nur Sleeman, Geography; Stewart, Jesus, 30–61 oder Williams, „Space“, 266–8.

6 Stewart, E. C., „New Testament Space/Spatiality“, BTB 42 (2012) 139–50Google Scholar.

7 Mayordomo, M., „Raumdiskurse in der neutestamentlichen Forschung“, VF 62 (2017) 50–6Google Scholar; siehe ferner noch K. Huber, „Von ,Turn‘ zu ,Turn‘, von ,Quest‘ zu ,Quest‘: Zu aktuellen Trends in der neutestamentlichen Exegese“, ThPQ 166 (2018) 248–59, hier 252–53.

8 Siehe hier schon Anm. 4.

9 Die Zitate dieses Abschnittes: Mayordomo, „Raumdiskurse“, 56.

10 Stewart, „Space“, 140–2. Ebd. stellt er mit dem „[e]nvironmental determinism“, dem Raum als „an abstract nothingness“ und dem Raum als „socially produced“ drei Ansätze zur Verhältnisbestimmung von Räumlichem und Sozialem vor.

11 Meiner Rede von der Raum-Politik liegt ein weiter Begriff von politischer Theologie zugrunde. Damit folge ich Vollenweider, S., „Politische Theologie im Philipperbrief?“, Paulus und Johannes: Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur (hg. D. Sänger/U. Mell; WUNT 198; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006) 457–69, hier 468Google Scholar. Dieser weit gefasste Begriff hebt nicht allein auf das Herrschaftssystem ab, sondern auch auf „das breite Spektrum von Willensbildung, von Entscheidungen und Handlungen sozialer Kollektive“ (ebd.).

12 Eine Statusinkonsistenz liegt laut E. W. Stegemann/W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte: Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt (Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 19972) 64 vor „wenn die zentralen Merkmale der Schichtzugehörigkeit (Macht, Privilegien, Prestige) nicht kongruent sind. Das ist vor allem der Fall, wenn das Prestige einer Person nicht mit ihren tatsächlichen Machtfunktionen und/oder Privilegien konvergiert.“

13 Jameson, F., „Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wandels (hg. Huyssen, A./Scherpe, K. R.; Reinbek: Rowohlt, 1986) 45–102, hier 60–1Google Scholar (Kursivdruck im Original).

14 Vgl. Soja, E., Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory (London/New York: Verso, 1989) 11Google Scholar.

15 Soja, E., Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places (Cambridge/Oxford: Wiley, 1996) 6Google Scholar.

16 Soja, Thirdspace – Erweiterung, 289.

17 Soja, Thirdspace, 70. Soja (ebd. 311) spricht vom Thirdspace als einem „strategische[n] Raum von Macht und Dominanz, aber auch von Selbstermächtigung und Widerstand“ (deutsche Übersetzung: D. Bachmann-Medick, „Dritter Raum: Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung“, Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume (hg. C. Breger/T. Döring; Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1998) 19–36, hier 29).

18 Vgl. W. Hallet/B. Neumann, „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung“, Raum und Bewegung in der Literatur: Die Literaturwissenschaften im Spiegel des Spatial Turn (hg. denselben; Bielefeld: transcript, 2009) 11–32, hier 16.

19 Soja, Thirdspace (ohne Seite).

20 Bachmann-Medick, D., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Reinbek: Rowohlt, 2014 5) 292Google Scholar; Hallet/Neumann, „Raum“, 14 nennen Lefebvres Studie mit dem Titel: Die Produktion des Raums den „zentralen Referenzpunkt der neumarxistischen Sozialgeographie“, als deren prominenteste Vertreter sie David Harvey und Edward Soja anführen.

21 Für H. Lefebvre, The Production of Space (übersetzt von D. Nicholson-Smith; Oxford/Cambridge: Blackwell, 1991; Original: französisch, 1974) 410–11 ist Raum nicht nur Kulisse gesellschaftlicher Handlungen, sondern deren Gegenstand: „Space is becoming the principal stake of goal-directed actions and struggles“. Raum werde gegenwärtig „more than the theatre, the disinterested stage or setting“ wahrgenommen.

22 Bereits 1972 hat J. Lotman, „Das Problem des künstlerischen Raumes (1972)“, derselbe, Die Struktur literarischer Texte (München: Fink, 1993) 311–29, hier 329 darauf hingewiesen, dass in literarischen Texten „der Ort der Handlung(en) mehr ist als eine Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds“.

23 Nach Bachmann-Medick, Turns, 293. In der räumlichen Theoriewende sei Raum als „gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung“ entscheidend, „eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten)“.

24 Nahezu wörtlich Hallet/Neumann, „Raum“, 16; ebd. auch die Zitate des voranstehenden Abschnitts.

25 So etwa auch Bachmann-Medick, Turns, 306. Ebd. votiert sie für ein Anerkennen dieser Alltagsvorstellung, „ohne freilich hinter die Errungenschaften der postmodernen Neukonzeptionalisierung zurückzufallen“.

26 Dennerlein, K., Narratologie des Raumes (Narratologia. Contributions to Narrative Theory 22; Berlin/New York: de Gruyter, 2009)CrossRefGoogle Scholar.

27 Dennerlein, Narratologie, 66; ausführlich zur Gewinnung dieser Alltagsvorstellung ebd. 48–67. Für ihren Entwurf modifiziert Dennerlein diese Alltagsvorstellung von Raum dahingehend, dass sie den Fokus ihrer Untersuchung auf jene Räume einstellt, welche „konkrete Umgebungen von Figuren sein können“ (Dennerlein, Narratologie, 68–9).

28 In diese Richtung geht auch der erste Impuls von J. Rüggemeier, „Die Wiederentdeckung des Raumes: Der ,Spatial Turn‘ als Impuls für die Exegese“, BiKi 73 (2018) 69–70, hier 70 zu möglichen Verzahnungen von Geografie und Exegese.

29 Man denke im ersten Bereich nur an die theologisch-christologische Frage nach der räumlichen Verhältnisbestimmung zwischen dem nachösterlich in den Himmel erhöhten Herrn und den Menschen in seiner Nachfolge auf Erden.

30 Und zwar in der Frage der realweltlich sozial-politische Gestaltwerdung bzw. umgekehrt gedacht: in der sozialen Wahrnehmbarkeit neuer (urchristlicher) Raumentwürfe.

31 Diese Zuordnungen werden in den einzelnen Schriften entweder explizit präsentiert oder aber hintergründig vorausgesetzt.

32 Mit einer ausschließlichen Ausrichtung auf ein einzelnes Konzept könnte eine Vorentscheidung zugunsten einer stärkeren Beachtung der statischen bzw. dynamischen Facetten im jeweiligen Entwurf getroffen sein.

33 Keel, O., Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament am Beispiel der Psalmen (Zürich u.a./Neukirchen: Benziger u.a., 1972) 47Google Scholar (ausführlicher ebd.).

34 Es geht also um die Frage nach der jeweiligen Vorstellung bezüglich der Zuordnung zwischen dem gegenwärtigen Aufenthaltsort des Verfassers der neutestamentlichen Schrift und dessen Erstadressatenkreis (Erde) und dem gegenwärtigen Aufenthaltsort des erhöhten Herrn (Himmel).

35 Gedacht aus der zeitlichen Perspektive der Verfasser (und Erstrezipienten) der neutestamentlichen Schriften.

36 An diesem Punkt spielt das Moment der Gleichzeitigkeit erneut eine herausragende Rolle, da die neutestamentlichen Raumentwürfe nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern innerweltlich einen bereits durch andere (Herrschafts-)Entwürfe besetzten Raum in den Blick nehmen. Gesteht man den neutestamentlichen Raumentwürfen einen Anspruch auf realweltliche Umsetzung zu und begreift sie nicht lediglich als zukünftige Utopien, kommt es unumgänglich zu Spannungen, Entgegensetzungen und Überlagerungen. Hier kann beschreibungssprachlich der Begriff der Heterotopien in seiner Fassung von Michel Foucault weiterhelfen, da dieser wesentlich mit der Gleichzeitigkeit der Besetzung bestimmter Räume rechnet: Während Utopien für ihn „wesentlich unwirkliche Räume“ sind, sind Heterotopien „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“. Bei Heterotopien handelt es sich um „Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“ (Die Heterotopien: Zwei Radiovorträge (Frankfurt: Suhrkamp, 2005) 226).

37 Durch die Einbeziehung der quellensprachlichen Ebene ist sichergestellt, dass das politische Moment nicht nur durch die postmoderne Brille von außen an die antiken Texte herangetragen wird.

38 Dieses Königreich konstituiert sich wesentlich durch göttliche Herrschaftsausübung und weist eine Innen-Außenunterscheidung auf, welche in den jeweiligen Jesuserzählungen etwa in den Einlasssprüchen auch explizit kommuniziert wird (z.B. Mt 19,23–4; 21,31; Lk 18,24–5).

39 Dass man bereits in der Antike um die konstruktive Dimension des Raumes etwa im Hinblick auf die Gestaltung des politischen Handlungs- und Lebensraumes wusste, lässt etwa Platon erkennen. Seine Ausführungen zum Landschaftsraum Athens und Atlantis’ im Timaeus und Kritias sind laut K. A. Morgan, „Plato“, Space in Ancient Greek Literature: Studies in Ancient Greek Narrative, Band iii (Mnemosyne 339; hg. I. J. F. de Jong; Leiden/Boston: Brill, 2012) 415–37, hier 433 „politically significant“. Denn es gehe Platon an den entsprechenden Stellen nicht lediglich um die Beschreibung eines physischen Gebildes. Vielmehr präsentiere Platon, wie die Landschaft „changed over generations as the result of human and divine intervention and natural forces“; siehe darüber hinaus noch als Überblick über drei verschiedene Modelle (Homer, Aischylus, Callimachus) räumlicher Konzeptionalisierung von politischer Macht: M. Asper, „Imagining Political Space: Some Patterns“, Imagining Empire: Political Space in Hellenistic and Roman Literature (BKAW.NF Zweite Reihe, Band 153; hg. V. Rimell/M. Asper; Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017) 63–74. Dabei sucht Asper zu zeigen, wie sich diese literarischen Konzeptionalisierungen als „symbolic representations of certain political programs“ verstehen lassen (ebd. 72).

40 Dieses Logion wird laut Merklein, H., Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft: Eine Skizze (SBS 111; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1989 3) 63Google Scholar „[f]ast einhellig … als authentisch angesehen“ und lasse darauf schließen, dass die Gottesherrschaft für Jesus von Nazaret „ein dynamischer Begriff“ gewesen sei. Dieser Begriff zeige „ein Geschehen“ an, „in dem die eschatologische Zukunft bereits die Gegenwart erfaßt“ (ebd. 65 (Kursivdruck im Original); ausführlich ebd. 63–6). Als sachlichen „Grund und Ursprung dieses Geschehens“ nennt er ebd. die bereits getroffene göttliche Heilsentscheidung und die Entmachtung des Satans (siehe weiter Hoppe, R., Jesus von Nazaret: Zwischen Macht und Ohnmacht (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2012) 77–78 und 89–90Google Scholar).

41 Siehe als Vergleichstexte z.B. Dan 4,24.28Theod, TestNaph 6,9 oder 1Thess 2,16; ausführlicher: Blumenthal, C., Basileia bei Lukas: Studien zur erzählerischen Entfaltung der lukanischen Basileiakonzeption (HBS 84; Freiburg im Breisgau: Herder, 2016) 205–7Google Scholar.

42 Auf dieser Spur ist die Gottesherrschaft mit W. Stegemann, „Jesu Verkündigung des Reiches Gottes als soziale Heterotopie“ [2011], derselbe, Streitbare Exegesen: Sozialgeschichtliche kulturanthropologische und ideologiekritische Lektüren neutestamentlicher Texte (hg. K. Neumann; Stuttgart: Kohlhammer, 2016) 87–102, hier 95 „nicht als statische Größe“ zu begreifen, „sondern als dynamischer Prozess …, der sich in der Transformation bestehender Ordnungen manifestiert und dadurch auch empirisch wahrnehmbar ist“.

43 Spätestens hier wird deutlich, dass sich Beschäftigungen mit neutestamentlichen Raumkonzeptionen nicht allein auf der synchronen Textebene bewegen (müssen); sie führen organisch auch zu einer diachronen Betrachtungsweise. So zeigt sich etwa für das Basileialogion Lk 11,20, dass Matthäus und Lukas die räumliche Dimension, welche diesem Wort bereits bei Jesus von Nazaret innewohnt, in ihrer Erzählung aufgreifen. Dabei kommt es durch die Einfügung in die jeweilige Jesuserzählung und der damit einhergehenden Einpassung in den jeweiligen Entwurf einer erzählten Welt zu einer je eigenen Fortschreibung dieser räumlichen Dimension.

44 Die folgenden Ausführungen zu Matthäus und Lukas bauen auf meinen Vorarbeiten auf und reflektieren diese unter raumthematischen Fokus: Siehe für das Matthäusevangelium: „,… wie im Himmel so auf Erden‘: Die räumlichen Implikationen der Vergebungsbitte des matthäischen Vaterunsers“, ZNW 108 (2017) 191–211; Basileia im Matthäusevangelium (WUNT 416; Tübingen, 2019), z.B. 91–106, 203–4; „Basileia is Gaining Space: God's Will, Mimesis of Christ, and the Spatial Shaping of the Basileia in Matthew's Gospel“, The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context: Papers from the International Conference in Moscow (WUNT; hg. M. Seleznev/W. R. G. Loader/K.-W. Niebuhr; Tübingen: Mohr Siebeck, 2021) 345–64; für das Lukasevangelium: Basileia bei Lukas, besonders 205–9, 255–320.

45 Mehr zur Datierung in 13,1 bei Blumenthal, Basileia im Matthäusevangelium, 100 mit den Anm. 45–6.

46 Matthäus übersteigert die Größe der Pflanze durch die Rede vom Baum.

47 Mit dieser wiederholten Ansage wird bereits vom Beginn der erzählerischen Entfaltung der gesamten Basileiakonzeption im ersten Evangelium weichenstellend die Überzeugung offen gelegt, dass der von Jesus zu seinen irdischen Lebzeiten ausgelöste Vorgang mit Sicherheit zum anvisierten Abschluss, d.h. zur Angleichung der irdischen Realität an die heilvolle himmlische Wirklichkeit und damit zur irdischen Präsenz des Himmelreiches führen wird.

48 Petrus und den Jüngern ist zwar die Möglichkeit zur Anpassung der Toraauslegung an die jeweiligen gegenwärtigen Rahmenbedingungen gegeben (Mt 16,19; 18,18); der Maßstab, an dem sich diese Anpassung aber zu orientieren hat, ist zeitübergreifend im Barmherzigkeitskriterium vorgegeben.

49 Die Annahme, dass die Menschen in der matthäischen Basileiakonzeption durch eine Umsetzung des göttlichen Willens einen Beitrag zur irdischen Gestaltwerdung leisten, fußt auf Matthäus’ Grundüberzeugung, dass die Gottesherrschaft dort verwirklicht ist, wo der Wille Gottes umgesetzt wird.

50 Gott ist als Herr der Geschichte unzweifelhaft der Haupthandlungsträger und Garant des Voranschreitens mit dem Ziel der endzeitlichen Vollumsetzung.

51 Ein weiterer zentraler Punkt der Sicherstellung ist die erzählerische Etablierung Jesu als Emmanuel.

52 Durch die Wahl der Perfektform ἤγγικεν ist der Fokus in den beiden Basileiaaussagen auf den Aspekt des Ergebnisses des ἐγγίζω-Vorgangs gerichtet. Dieses Ergebnis ist für die Gegenwart des Sprechenden (konkret: der Boten bei der Ausführung ihres Auftrages in den einzelnen Städten) darin zu sehen, dass das Nahekommen des Gottesreiches so weit vorangeschritten ist, dass dessen Anbruch unmittelbar und unabwendbar bevorsteht: Jetzt kann im nächsten Handlungsschritt das Ankommen erfolgen.

53 Die Präsenzform ἔρχεται in der Pharisäerfrage hat futurische Bedeutung (vgl. BDR § 323); sie signalisiert, dass für die Pharisäer das Reich Gottes trotz Jesu Gegenwart noch eine rein zukünftige Größe darstellt.

54 Das Syntagma ἐντὸς ὑμῶν ist auf einer ersten Deutungsebene als „mitten unter euch“ zu begreifen.

55 Auf einer nachgeordneten Verständnisebene impliziert das Syntagma ἐντὸς ὑμῶν den Gedanken: „in eurer Verfügbarkeit“.

56 Siehe καὶ πᾶς εἰς αὐτὴν [= εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ] βιάζεται.

57 Diesem Aspekt ist in der basileiatheologischen Linienführung des zweiten Teilbandes dadurch konsequent Rechnung getragen, dass an der absoluten Mehrheit der Belegstellen das βασιλεία τοῦ θεοῦ-Syntagma mit einem verbum dicendi wie λέγω oder κηρύσσω verknüpft ist und so zur Angabe des jeweiligen Gesprächsinhaltes dient.

58 Ausführlich Blumenthal, Basileia bei Lukas, 304–5.

59 Neben der bleibenden Erfahrbarkeit des Friedens zeugen auch Beobachtungen zur lukanischen Mahlkonzeption vom Bemühen des Erzählers um den Aufweis einer angeldhaft irdischen Erfahrbarkeit der Gottesherrschaft nach Jesu Himmelfahrt.

60 Diese Komponente fehlt im Rahmen der Erzählung von der Taufe Jesu in Lk 3,21–2. Dort wird zwar auch die Öffnung des Himmels konstatiert (ἀνεῳχθῆναι τὸν οὐρανόν), aber es wird nicht von einem Blick in den Himmelsraum hinein erzählt.

61 Dass Rivalität ganz allgemein „in der antiken agonistischen Gesellschaft ein Grundmotiv für die Gestaltung sozialer Beziehungen“ gewesen sei, sieht beispielsweise auch Guttenberger, G., Das Evangelium nach Markus (ZBK.NT 2; Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2017) 226Google Scholar (bei ihrer Auslegung von Mk 9,33–7 mitsamt Verweis auf Mk 10,35–45) und illustriert dies mit Verweis auf Homer, Ilias 6.208 (αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων). Dabei zeichne ein solches Vorrangstreben in der griechisch-römischen Kultur aber nicht nur den Aristokraten aus, sondern finde sich in allen sozialen Schichten (so ebd.); siehe ausführlich zur Schichtung und sozialen Situation in antiken mediterranen Gesellschaften Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 58–94 (siehe speziell zu den Aspekten von Macht, Privilegien und Ansehen ebd. 64–8).

62 Den innerweltlichen Bewertungsmaßstäben zur Zuschreibung von Größe und Bedeutung stehen die Maßstäbe im Gottesreich diametral gegenüber.

63 Wesentlich verankert wird dieser alternative Leitungsentwurf in der Handlungsvorgabe Jesu selbst (siehe Mt 20,28; Lk 22,27).

64 Gedacht aus der zeitlichen Perspektive der Erzähler.

65 Auf der Spur von Stegemann, „Verkündigung“, 101–2 kann man von einer sozialen Heterotopie sprechen. Im Unterschied zur Utopie könne mit dem Begriff der Heterotopie „die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Gebrauchsformen in realen Orten“ beschrieben werden (er folgt dem Heterotopiebegriff von M. Foucault). Dabei liegt für mich das Konzept der Heterotopie in der Realisierung gegenläufiger Machtstrukturen begründet.

66 Die Vorstellung, dass der Basileiaraum als diskrete Entität sich von einem politisch anders gelagerten Hintergrund abhebt, setzt die Annahme eines Beobachters voraus, der diesen Heilsraum „auf seine spezifische Weise separiert“ (so allgemein zu sozialweltlich relevanten Räumen: J. Miggelbrink, „Räume und Regionen der Geographie“, Raumkonzepte: Disziplinäre Zugänge (hg. I. Baumgärtner u.a.; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009) 71–94, hier 93): „Raum als Objekt ist daher an Diskurs und Kommunikation, an Handeln und Praxis bzw. Praktiken gebunden“ (ebd. (Hervorhebung: C.B.)).

67 Bei Matthäus: Durch die Torapraxis der Gemeinde in Ausrichtung an der Toraauslegung Jesu.

68 Bei Lukas: Im sozialen, friedlichen Zusammenleben und in der Gütergemeinschaft der Gemeinde.

69 Siehe die Aussagen über Himmel und Erde mit kontrastivem Charakter (teilweise sind beide Glieder explizit ausgeführt, teilweise muss das zweite Glied aus dem Kontext erschlossen werden): Mt 5,34–5; 6,19–20 oder 23,9; Lk 4,25; 19,38 oder 20,4.

70 Siehe zum entscheidenden Beitrag von Apg 2,33 zur Etablierung des Kyrios als sublimem Hauptakteur der Apg: Blumenthal, C., „Die Pfingstpredigt als entscheidender Beitrag zur Etablierung Jesu als Protagonist der Apg“, ZNW 109 (2018) 76–100CrossRefGoogle Scholar, besonders 92–8.

71 Der voranstehende Aufsatz ist Teil einer Trilogie. Die anderen beiden Beiträge erscheinen unter den Titeln: „Das politische Potential neutestamentlicher Raumentwürfe: Ein Feldversuch am Ersten Petrusbrief und an der Johannesoffenbarung“, BZ 65 (2021) 217–43 und „Neutestamentliche Raum-Politik: Theoretische Grundlegungen und exemplarische Spurensuche im Philipperbrief und im Markusevangelium“ (Gott im Raum?! Theologie und spatial turn: aktuelle Perspektiven (hg. K. Karl/S. Winter; Münster: Aschendorff, 2021) 49–78).