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LXIV. Grimmelshausens Ungarische Wiedertäufer

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

A. J. F. Zieglschmid*
Affiliation:
Northwestern University

Extract

Im 19. Kapitel des 5. Buches seines Simplicissimus berichtet Grimmelshausen ”etwas wenigs von den ungarischen Wiedertäufern und ihrer Art zu leben.“

Hatte man in früheren Jahrzehnten geglaubt, “für dieses Erlebnis [mit den Wiedertäufern] fände sich hochstens Raum im Anschluß an seine Reise von Baden nach Wien, so daß die . . . Lücke [in Grimmelshausens Biographie zwischen 1640-45] vielleicht durch einen Aufenthalt in Ungarn auszufullen wäre,” so steht heute fest, daß von ausgedehnten Reisen abzusehen ist. Nach den neueren Forschungsergebnissen ist Grimmelshausen nicht einmal in Wien, viel weniger je in Ungarn gewesen. Auf Grund des angeblichen Mangels an personlicher Bekanntschaft mit den ungarischen Wiedertäufern soli Grimmelshausen die munsterischen Anabaptisten als Vorbild verwandt haben; oder er soil Gelegenheit gehabt haben, “die Art der Wiedertaufer in den Tälern des Schwarzwaldes”6 kennenzulernen. Außerdem erinnere “die staatliche Regelung der Arbeit und des Familienlebens bei den [ungar.] Wiedertaufern . . . stark an ähnliche Einrichtungen in Thomas Morus' Utopia und Valentin Andreas' Christianopolis. Auch einige Einrichtungen der Civitas Solis des Campanella, z. B. die Sauglingspflege,” fände sich bei Grimmelshausens ungarischen Anabaptisten wieder.

Type
Research Article
Information
PMLA , Volume 54 , Issue 4 , December 1939 , pp. 1031 - 1040
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1939

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References

1 R. M. Werner, “Hist. und poet. Chronologie bei Grimmelshausen,” Studien zur vergl. Literaturgesch., viii, (1908), Kap. I: “Simpl. Simpl.,” 77–106.

2 Dieffenbacher, “Grimmelshausens Bedeutung für die badische Volkskunde,” Korrespondmzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, 49. Jhrg., Nr. 12 (Berlin: Dez., 1901), S. 195; A. Bechtoldt, J. Christ. von Grimmelshausen und seine Zeit (München: Musarion, 1919), S. 159.—J. Tittmann hielt z. B. Reisen ins Ausland, nach der Schweiz, Paris und Amsterdam für wahrscheinlich; vgl. Dt. Dichter des 17. Jhrdts, vii: “Simpl.,” xii (Einleitung).

3 Gust. Könnecke-J. H. Scholte, Quellen und Forschungen zur Lehens geschickte Grimmelshausens (Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen; [Bd. i:] 1926, [Bd. ii:] 1928), i, 303 u. a. O.; H. H. Borcherdt, Grimmelshausens Werke (Berlin: Bong und Co., 1921), iv. Teil, 429: Anm. zu S. 145: ”Grimmelshausen war nicht in Ungarn. …“

4 F. Hoffmann, Erläuterungen z. Grimmelshausens Simpl. Simpl. (Leipzig: H. Beyer, s. a.), S. 103.

5 Dieffenbacher, op. cit., 197: ”Ganz aus dem Empfinden und der Ideenwelt seiner Umgebung heraus dürften wohl die folgenden Stellen des Simplicissimus geschrieben sein. So … jenes eigenartige Kapitel des V. Buches, wo Gr. seine utopistischen Ideen entwickelt und für die Wiedertäufer schwärmt, deren gottgefälliges Leben er angeblich auf ihren Höfen in Ungarn beobachtet haben will. Auch hier haben wir nichts anderes vor uns als eine Einwirkung der im Schwarzwald und in der Ortenau lebendigen schwarmgeisterischen Anschauungen. Die Gestalten eines Michael Sattler aus St. Peter [aus Staufen bei Freiburg i. Br.; 1527 zu Rotenburg am Neckar verbrannt] und des Kürschners Melchior Hofmann aus Hall in Schwaben, der 1533 das Herannahen des Reiches Christi in Straβburg verkündet hatte, steigen vor uns auf. Die ‘Brüderlie,‘ die Wiedertäufer, haben sich nach Gothein noch im 17. Jhdt., also zu Grimmelshausens Zeit, in der Ortenau mehrfach geregt.“ (Schrägdruck von mir veranlaβt!)—Obwohl die ”Brüderlie“in der weinreichen Landschaft in Baden zwischen dem Schwarzwald und dem Rhein sich mehrfach geregt haben, können diese Schweizer Brüder, die keine besonderen Gemeinschaftskolonien gründeten, für die im Simpl. erwähnten Charakterzüge nicht in Frage kommen, wie sich aus dem oben folgenden Text meines Artikels ergeben wird.

6 H. H. Borcherdt, ibid.; vgl. (nach Borcherdt) Fritz Sternberg, Grimmelshausen und die dt. sat.-pol. Lit. seiner Zeit (Triest, 1913), S. 251.

7 Zitiert nach J. Tittmann, op. cit., Bd. viii.

8 So in den Ratsrezessen der Stadt Elbing vom 7. Okt. 1604; vgl. L. Neubaur, ”Mährische Brüder in Elbing,“Zeitschrift f. Kirchengesch., xxxiii, 449 (Gotha, 1912): ”… vnd weren ihre bruder nach der Zeyt [1536, dem Todesjahr ihres fähigsten Lehrers und Organisators, Jakob Hueter: Huter: Hutter] auch von etlichen die Hutierische bruderschafften genennet worden.“

9 Das hutterische Geschichtsmaterial ist z. T. enthalten in: Jos. Beck, Die Geschichtsbücher der Wiedertäufer in Oesterr.-Ung., ”Fontes Rerum Austriacarum, 2. Abtig.: Diplomataria et Acta,“xliii (Wien: Akad. der Wissenschaften, 1883); J. Loserth, Der Anabaptismus in Tirol: Von seinen Anfängenbis zum Tode Jakob Huters, ”Archiv f. österr. Gesch.,“lxxix, 2. Hälfte (Wien, 1892); ders., Der Anabaptismus in Tirol: Vom Jahre 1536 bis zu seinem Erlöschen, in ibid., lxxix, 1. Hälfte (Wien, 1892); ders., Der Communismus der Mährischen Wiedertäufer im 16. und 17. Jhdt., in ibid., lxxxi, 1. Hälfte (Wien, 1894); B. W. Clark, “The Hutterian Communities,” Journal of Political Economy (1924), 357–374, 468–486; eine Uebersetzung davon: Die Hutterischen Gemeinden (Leipzig: Eberhard Amold-Verlag, 1929).—Ich selbst bin dabei, einen diplomatischen Abdruck der ältesten Chronik der Hutterischen Brüder (1525–1665) zu veröffentlichen. Ich zitiere aus dieser Chronik (Abk.: Hutt. Chron.).

10 “Ingolstatt … Anno m.dc.vii.”

11 Aus einem Brief Kaiser Leopolds II. an das ”Capitulo Ecclesiae Posoniensis [Preβburger, i.e. Bratislavaer Domkapitel], hier zitiert nach dem Abdruck in Fr. Kraus, Nové Príspevky K Dejinám Habánov Na Slovensku (i.e. Neue Beiträge z. Gesch. der Habaner in der Slowakei; Tlačou Slovenskej Grafie, Bratislava, 1937), 101.

12 Zitiert nach Kraus, op. cit., 148: Mathiae Belii, Notitia Hungariae Novae (1735), iv, 513.—Dwur, slav. dvůr=’Hof; vgl. Dvorsky sudi ‘Hofrichter’ bezüglich Habanský: slow. für die katholisch gewordenen Hutterer, die 1763 nicht mit nach Siebenbürgen übersiedelten.

13 Vgl. J. J. Herzog-A. Hauck, Realencyklopädie f. protest. Theol. und Kirche, xii, 602.

14 Ibid. sowie J. D. Unruh, The Mennonites of South Dakota,“ 5. D. Hist. Rev. (Juli, 1937), ii, 147–170.

15 Hutt. Chron. 373v/r.—Andere Belege werden in einer zukünftigen Veröffentlichung erscheinen.

16 Fr. Hrubý, “Die Wiedertäufer in Mähren,” Archiv f. Reformations-Gesch., 32. Jhrg., Nr. 125/126, Heft 1/2 (1935), 8.

17 B. W. Clark (dt. Uebersetzung), op. cit., 6.

18 R. Liefmann, Die kommunistischen Gemeinden in Nordamerika (Jena: G. Fischer, 1922), 75: ”Die Frau bezieht vor der Geburt eines Kindes die Kindsmutterstube.“Daβ man solche Zimmer auch in Ruβland hatte, bezeugt derselbe Gewährsmann, ibid., 71: ”Wenn die Frau ein kleines Kind hatte und es hier [in der Schlafstube] zu kalt war, so ging sie in die Kindsmutterstuben schlafen mit ihrem Kinde.“Aus Ungarn liegt wenigstens ein Bericht im ”Sendbrieff anno 1655“ von dem Vorsteher aller hutterischen Gemeinden, Andreas Ehrenpreis (1639–1662 im Amte), vor, in dem er erwähnt, daβ alle Höfe u. a. ”eine Stuben für die Kindbetterinnen“ gehabt haben; vgl. J. Loserth, Der Communismus …, 249.

19 Fr. Hrubý, ibid., 8.

20 Hut. Chron. 292r.

21 Ibid. 309v.

22 Vgl. B. W. Clark, op. cit., 8.

23 Hutt. Chron. 308v.

24 Ibid. 307r.

25 Ibid. 21Sv.

26 Vgl. den aufschluβreichen Briefwechsel zwischen Kaiser Ferdinand II. und Kardinal von Dietrichstein darüber, wie er [Ferd.] zu den Schätzen der Wiedertäufer gelangen könnte, in Fr. Hrubý, op. cit., 32. Jhrg., 19–21, sowie ders., op. cit., 31. Jhrg., 73–74.

27 Vgl. Gust. Freytag, Bilder aus der dt. Vergangenheit, iii: Aus dem Jhdt. d. groβen Krieges, 4. Kap.: Der 30jährige Krieg.

28 Hutt. Chron. 506r.

29 Vgl. B W. Clark, op. cit., 25.—Fr. Hrub ý, op. cit., 32. Jhrg., 74, beziffert den Barbesitz der Hutterer auf 50–60 000 fl.

30 Hutt. Chron. 276v.

31 Vgl. T. J. V. Braght, Der Blutige Schau-Platz oder Martyrer-Spiegel…, 2. Teil (von 1524 bis 1660), (Ephrata, Penna.: Verlag der Bruderschaft, Anno 1747), in dem ich nicht weniger als 146 hutterische Märtyrer zählte. Während der verschiedenen Verfolgungen büβten nicht weniger als 2 175 Hutterer ihr Leben ein!

32 Vgl. Dieffenbacher, op. cit., 196.—Neben der mündlichen Vermittlung der Tatsachen durch einen Zeitgenossen könnte noch die Beeinflussung durch schriftliche Quellen in Betracht kommen; denn es ist bekannt, welch Unmenge Bücher Gr. gelesen haben muβ. Freilich gestatteten es ihm seine Vermögensverhältnisse nicht, sich diese Bücher selbst anzuschaffen. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, daβ er die in der Nähe von Gaisbach (und später von Renchen) gelegenen Bibliotheken benutzte. Die reichhaltige Bücherei der Benediktinerabtei Ettenheimmünster, die etwa nur drei bis vier Meilen von Gaisbach gelegen, sowie die des Klosters Allerheiligen, zu dem Grimmelshausen Beziehungen hatte, kämen hier in Frage. Vgl. Könnecke-Scholte, op. cit., Bd. i, 148, Anm. 2.

33 Trotz Käte Fuchs, Die Religiosität des J. J. Christ, von Grimmelshausen (Leipzig: Mayer und Müller, 1935: ”Palaestra,“ ccii), 146.

34 Vgl. Beck, Fontes …, 492–493. Höchst günstig sprechen sich nach Beck, ibid., über die hutterische Niederlassung in Mannheim aus: Göbel, Gesch. d. christl. Lebens der rhein. Kirche (1849), i, 591, sowie Vierordt, Gesch. d. evang. Kirche im Groβherzogtum Baden (1856), ii, 507.

35 Da Grimmelshausen 1656–58 eine Schankwirtschaft im Schaffneihause zu Gaisbach und annähernd vom 2. März 1665 bis etwa zum 10. August 1667 die Schankwirtschaft zum Silbemen Stern im selben Orte betrieb (vgl. Könnecke-Scholte, op. cit., ii, 144, 180–181), ist es nicht ausgeschlossen, daβ er während dieser Zeitabschnitte mit den Mannheimer Hutterern in Berührung kam. Von einer Reise Grimmelshausens nach Mannheim zwischen 1654 (der Gründung des Mannheimer Bruderhofes) und 1669 (dem Erscheinen des Simpl.) ist anscheinend nichts bekannt.—Ob der einzige 1658 in Gaisbach wohnhafte ”Schweizer“ (vgl. Könnecke-Scholte, op. cit., i, 92) mit den Hutterern in Verbindung zu bringen ist, verdiente durch Einsicht in die Kolligenda vom 4. März 1658 des Joh. Preiner, Schaffners Philipp Hannibals von Schauenburg, untersucht zu werden.